Erinnerungen an die DDR

(Aus Ursulinskajas Archiv, ca. 1999)

Ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal begriff, dass Dänemark und die DDR zwei verschiedene Länder waren. Dänemark war das gelbe, weiche mit dem Sand. Die DDR war eine grobkörnigere, rubbeligere Angelegenheit. Wir fuhren zwar statt in zwei Tagen in nur fünf Stunden dorthin, machten aber immer noch Rast bei meiner fränkischen Tante, der Vorbotin des Seltsamen. Und danach ging es erst richtig los: Wir hielten ständig, etwas Aufregendes musste noch hier und dort erledigt werden, meine Eltern drehten sich häufig nach uns um und suchten irgendwas auf dem Rücksitz.
Durch das vordere Fenster sah ich das große Frankenhotel auf uns zurollen und freute mich. Es war ja so witzig alles!
Jetzt durften wir nochmal aufs Klo und zum letzten Mal Sächsisch imitieren und dann, schnell!, den Stern wegschmeißen, und ich wusste, wir fahren jetzt auf die GRENZE zu.

Die überwiegenden Farben an der Grenze waren Grün und Braun, und eine Art brauner Block lag plötzlich in der Luft, der Ostblock, der eckig über den Dächern der Grenzposten hing und eine Vorahnung von den herrlichen Schwaden war, die über dem Land schweben würden, in das wir jetzt fuhren. Ganz seltsam, mitten auf dem Dorf und zwischen weichem Zittergras würde wieder unsichtbar diese braune Luft stehen. Ich erinnerte mich daran und freute mich darauf. Auch in dem Pfarrhaus, zu dem wir fuhren, roch es komisch: nach Braunkohle und Moder, aber auch nach dem leckeren eckigen Blechkuchen aus der DDR. Ich freute mich ja so!

Ich freute mich und freute mich, aber wir kamen nicht voran, nur stückchenweise durfte unser Auto weiterfahren, und außerdem mussten wir leise sein und durften keine Hörspiele mehr hören, weil mein Vater jetzt meist schlecht gelaunt und hochkonzentriert war. Und immer sagte meine Mutter an dieser Stelle, dass wir wohl doch besser den Grenzübergang Hirschberg genommen hätten.

Plötzlich kamen zwei Zöllner auf uns zu, endlich! Sie waren ganz nett eigentlich, fand ich, wir alle waren, glaube ich, erleichtert. Reden durften wir ja nichts. Dann machten sie den Kofferraum auf, holten alles raus, was da war, alle Koffer und jeden Quatsch, Waschbeutel und Föhne, die wir noch irgendwo dazwischengestopft hatten. Sie öffneten die Koffer und fanden eine Schachtel mit einem Spiel: „Gefährliches Geröll“.
„Gefährlisches Geröll“, sagte der eine Grenzbeamte bedeutungsschwanger zum anderen. Der nahm ihm die Schachtel aus der Hand und ging damit zum Zollhäuschen. Der Erste folgte ihm unauffällig.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde kamen sie  zurück, und wir durften weiterfahren.

Von jetzt ab war alles fröhlich und leicht, wir rollten in die DDR und lachten alle laut und hysterisch, weil wir so lange nichts gesagt hatten. Bäume standen links und rechts der Straße, überall Bäume und ein Flüsschen, und dazu das Grau der Häuser und der vertraut merkwürdige Geruch und die hohen Strommasten. Wenn wir durch Dörfer fuhren, holperten wir laut über die gepflasterten Straßen, an schwarz gedeckten Häusern vorbei und an Frauen und Kindern in Neonfarben, die überrascht stehen blieben, sobald sie uns sahen.

In S. standen plötzlich fünf Leute vor einem Gartentor, und ein Hund kam auf uns zugesprungen und bellte sich die Seele aus dem Leib: der liebe Golf, der Collie unserer Freunde! Wir fielen uns alle um den Hals, und B. und ich planten sofort zusammen die nächsten fünf Tage: ein Gartenfest und ein Theaterstück, Handpuppen basteln und ein Picknick.

Aber gleich am nächsten Tag musste unsere Familie zum Rat des Kreises nach Saalfeld, das trennte uns wieder und machte mich wahnsinnig wütend. Wir hatten so wenig Zeit zusammen und ich hatte so wenig Lust dazu. Ich fühlte mich so anders als B. deswegen, wieso musste sie denn nicht da hin? Sie durfte nicht einmal!

Da saßen wir also nun in einem grünen Linoleumgang, und meine Mutter freute sich darüber, dass sie jemanden schwäbisch reden gehört hatte oder badisch oder berlinerisch, aber mir war das egal, es dauerte einfach viel zu lang und war so düster und trostlos hier. Wir rückten die Wand entlang näher an ein Zimmer heran, das am Ende des Ganges lag. Aschenbecher zeigten uns an, wie weit wir schon gekommen waren.
Auch als ich schon lesen konnte, war das kein Vorteil, denn an den Wänden hingen nur die allerlangweiligsten Aushänge und Plakate, die man sich vorstellen kann, so grauenhaft langweilig, dass sie sich jedem gedanklichen Zugriff entziehen. Ich kann mir nicht einmal im Entferntesten etwas vorstellen oder gar ausdenken, das ähnlich langweilig wäre.
Am Ende dieses Ödnisexzesses lag der Raum, den alle dreihundert Leute früher oder später erreichen mussten. Dort bekamen wir Stempel in unsere Pässe gedrückt und durften sofort wieder gehen.

Nur einmal gab es einen kleinen Zwischenfall. An der Wand hinter den Sperrholztischen hing ein großes Bild von Erich Honecker vor knallblauem Himmel. Meine Schwester sah es sich lange an und sagte dann laut und verwundert:
“Der sieht ja gar nicht so böse aus!“
Es passierte aber nichts weiter, und wir kamen auch diesmal wieder unbeschadet zu unseren Freunden nach S. zurück.

Wenn wir nach fünf Tagen wieder nach Hause fuhren, war ich immer traurig und enttäuscht. B. war gegen Ende immer seltsam kühl zu mir, wir stritten uns über jeden Scheiß, und ich fühlte mich ihr moralisch unterlegen, weil ich mich nicht so für Politik interessierte. Aber das war glaube ich erst später, als wir schon größer waren.

Bei diesem Besuch hatte ich einen Marsmenschen aus Mullbinden gebastelt, den man als Handpuppe benutzen konnte, und war deshalb gut gelaunt und fröhlich trotz unseres Abschieds und freute mich auf zu Hause.
Auf der Rückfahrt kontrollierten uns die Zöllner normalerweise nicht so streng wie auf dem Hinweg. Aber diesmal waren sie über irgendetwas wütend und rissen alle Sachen aus dem Kofferraum, durchwühlten die Koffer mit meinem Marsmenschen, schleuderten ihn auf den Boden und zerbrachen ihm die Antenne. Da heulte ich zu guter Letzt dann doch noch wie ein Schlosshund.

 

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